ZIVILISATION UND MODERNISMUS – Dr. Ali Schariati

Eine Rede von Dr. Ali SCHARIATI, die am 31.12.1973 für die Vereinigung der Soziologie-Lehrer der Provinz Khorassan (Iran) gehallten wurde. Diese wurde aus einer Bandaufnahme abgeschrieben und übersetzt.

 

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Gnädigen

 

Die Bedeutung der Begriffe Kultur, Barbarei, zivilisiert, Modernist steht innerhalb der Botschaft des Islam zur Diskussion. Sie sind die wesentlichen Fragen, die nicht nur jeder Moslem sich stets im Namen des Islam stellen sollte, sondern besonders Intellektuelle und Gebildete, die als Mitglieder der islamischen Gesellschaft für die unmittelbare Aufgabe der Erneuerung und Zivilisation verantwortlich sind, sind damit konfrontiert.

 

Eine der kritischen Fragen – vielleicht die kritischste und lebenswichtigste Frage überhaupt – die heute gestellt werden muss und leider bisher nicht gestellt wurde – ist die Frage des Modernismus, mit dem alle nicht-europäischen Gesellschaften, darunter auch die islamischen Gesellschaften, konfrontiert sind. Die Fragestellung nämlich, in welchem Verhältnis Modernismus zu Zivilisation steht. Sind diese Begriffe, wie uns erklärt wurde, Synonyme? Oder ist der Modernismus eine andere gesellschaftliche Erscheinung und hat mit der Zivilisation nichts zu tun? Leider wurde den nicht-europäischen Gesellschaften unter dem Namen der Zivilisation der Modernismus angeboten.

 

In den letzten 100 – 150 Jahren, als die nicht-europäischen Gesellschaften, darunter die islamische Gesellschaft, dem Westen, der westlichen Zivilisation begegneten und modernisiert werden mussten, hat der Westen die Aufgabe der Modernisierung dieser Gesellschaft übernommen. Im Namen der Zivilisation und der Zivilisierung dieser Gesellschaften hat man uns die Modernisierung gebracht. Wenn ich uns sage, meine ich damit die nicht-europäischen Gesellschaften. Sie erklärten uns, dass diese die Zivilisation sei. Vor Jahren hätten unsere Intellektuellen uns darauf aufmerksam machen und dem Volk erklären müssen, dass Modernismus und Zivilisation zwei verschiedene Dinge sind. Sie hätten uns verständlich machen müssen, dass die Zivilisation auf dem Wege des Modernismus nicht zu erreichen ist. Das haben sie nicht getan! Warum haben die Gebildeten und Intellektuellen der nicht-europäischen Gesellschaften in diesen 100 bzw. 150 Jahren, als Europa die Aufgabe der Modernisierung dieser Gesellschaften übernommen und sich zum Ziel gesetzt hatte, die nicht-europäischen Menschen ebenfalls zu modernisieren, dieses Problem nicht erkannt? Den Grund werden wir hier erläutern.

 

Hierfür werden wir einige Termini benutzen, die erklärt werden müssen:

 

1. Intellektuelle

Dieser Terminus ist in unserer Gesellschaft und anderen – europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften – sehr verbreitet.

Was bedeutet er? Wen nennen wir Intellektuelle? Wer sind Intellektuelle? Welche Aufgabe übernehmen sie in ihrer Gesellschaft?

Ein Intellektueller ist derjenige, der sich über seine menschliche Situation in einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Zeitabschnitt bewusst ist. Dieses Bewusstsein hat ihm das Verantwortungsgefühl verliehen; dieser selbstbewusste Mensch ist ein verantwortungsbewusster, der die Funktion wissenschaftlicher, sozialer und revolutionärer Führung seiner Gesellschaft übernimmt.

 

2. Assimilation

Dieses Wort bildet die Grundlage vieler Diskussionen und Schwierigkeiten, denen wir Nicht-Europäer und Mosleme begegnet sind. Assimilation bedeutet, dass der Mensch sich selbst – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – einer anderen Person anpasst. Das heißt, wenn einer von dieser Krankheit befallen ist, kennt er weder seine eigene Persönlichkeit und Identität noch seine Eigenschaften; und wenn er sie kennt, empfindet er einen Hass  ihnen gegenüber. Um sich von persönlichen, sozialen und nationalen Eigenschaften zu entfernen, passt er sich weitgehend und mit großer Akribie bedingungslos den anderen an, damit er sich von der Schande, die er verspürt, befreien und an jeglicher Würde und Erhabenheit, die er den anderen zuschreibt, teilhaben kann.

 

3. Aliénation

Aliénation bedeutet die Entfremdung des Menschen von sich selbst, d.h. wenn der Mensch seine eigene Identität verliert und seine andere Sache bzw. Person an ihrer  Stelle in sich fühlt. Sie ist eine große soziale und seelische Krankheit des Menschen. Es gibt mehrere Arten von Selbstentfremdung, und sie hängt von mehreren  Faktoren ab. Einer der Faktoren, die den Menschen verunstalten, ist sein Werkzeug. In der Soziologie und Psychologie gibt es die klare Erkenntnis, dass jeder, der während seines Lebens ständig mit einem Werkzeug bzw. einer bestimmten Form der Arbeit zu tun hat, allmählich seine unabhängige und tatsächliche Persönlichkeit vergisst und das Werkzeug anstelle seines eigenen Ich setzt. Z.B. die Gefühle, Gedanken und Fähigkeit eines Menschen, der jeden Tag von morgens bis abends mit seiner Maschine bzw. einer Schraube zu tun hat, liegen brach. Er hat die Aufgabe, nur ein Werkzeug in die Hand zu nehmen und eine bestimmte Arbeit mit einer Maschine ausführen. Z.B. bei einer Fließbandarbeit wird ihm gesagt, dass er jede dritte Schraube anziehen muss. Ein Mensch, der vielfältige Gefühle, Begabungen, Gedanken und Geschmacksrichtungen, Neigungen, Hass und Vorlieben hat, wird zu einem Geschöpf, das die meiste Zeit seines Lebens eine Schraube in Intervallen anzieht. 10, 11, 12 Stunden am Tag wird er zu einem Werkzeug. Seine ganze Leistung besteht aus einer eintönigen Arbeit. Alle seine Fähigkeiten liegen brach.

 

 

Von allen Beispielen, die für die Erklärung dieses Problems erwähnt werden, ist das Beispiel, das Charlie Chaplin gebracht hat, am einleuchtendsten. Charlie zeigt in dem Film Moderne Zeiten einen Mann, der erst ein freier Mensch gewesen war, Gefühle besaß, seine Freundin liebte, seinen Vater respektierte, den alten Freunden, die ihn besuchten, Gefühle entgegenbrachte, Er fühlte die Not, konnte Kummer empfinden, er verspürte das Bedürfnis, jemanden sein Herz auszuschütten, er reagierte auf die Gegebenheiten und Nöte des Lebens auf verschiedene Weise, er hatte Fähigkeiten und Empfindungen unterschiedlicher Art.

 

Wenn dieser Mensch auf der Straße seine Mutter sah, empfand er Gefühle eines Sohnes, der nach langer Zeit  seine Mutter wiedersah; wenn er einen Freund, den er lange nicht gesehen hatte, wiedersah; wenn er einen Freund, den er lange nicht gesehen hatte, wiedersah, hatte er das Bedürfnis, mit ihm zusammenzukommen, sich nach seinem Befinden zu erkunden und ihm vom Leben und er Vergangenheit zu erzählen; wenn er seine Geliebte sah, empfand er Liebe und Zuneigung, wollte mit ihr zusammenkommen und über seine Gefühle und Empfindungen reden; wenn er den Feind sah, empfand er Hass: die abstoßenden und unheilvollen Erinnerungen der Feindschaft wurden wach. Er wollte kämpfen, ihn beleidigen und sich rächen. Er war schließlich ein Mensch und hatte mannigfaltige Bedürfnisse und Empfindungen; wenn er im Leben eine schöne Aussicht sah, bereitete sie seinem ästhetischen Empfinden Vergnügen. Das Hässliche erweckte in ihm das Gefühl des Abscheus und des Unheils. So reagiert ein natürlicher Mensch!

 

Dann geht er in einer Fabrik arbeiten. Eine Fabrik, von deren Größe und Kompliziertheit er sich kein rechtes Bild machen kann. Er weiß nicht, was dieser ungeheuer große Apparat von Menschen und Technik leistet und wie sie koordiniert werden. Er geht in ein Büro und legt einige Ausweispapiere und Lichtbilder vor, ihm wird gesagt, an wen und an welche Nummer er sich wenden soll. Er begibt sich in den Warteraum. In einem langen Flur wird er in ein Zimmer geführt, ein Herr zeigt ihm seine Arbeit. Was ist sie? Nichts besonderes. Ein großer Saal, in dem sich ein Metall-Fließband in regelmäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Das Band kommt von einer Seite des Raumes und führt in die anderen Räume, Anlagen und Abteilugen. Der Mann weiß nicht, woher das Band kommt, wohin es geht und warum er diese Arbeit leisten muss. 7-8 Leute stehen hier nebeneinander. Seine Arbeit besteht darin, dass er jede 3. Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte Schraube zweimal anzieht, die andere dritte Schraube nur bis zur Hälfte usw. 8-9 Stunden setzt er diese Arbeit fort. Nach dem Gongschlag geht er nach Hause. Er macht sich keine Gedanken darüber, woher diese Schrauben kommen, warum er so arbeitet, woher das Band kam, wohin es ging, was er herstellt. Er kann sich keinen Reim auf die von ihm verrichtete Arbeit machen.

 

Die Leute, die neben ihm stehen, können überhaupt nicht miteinander reden, denn das band bewegt sich mit solch einer Geschwindigkeit, dass keiner imstande ist, aufzublicken, sonst rast die Schraube vorbei, die Arbeit im Werk muss ruhen und der Betreffende wird bestraft und hinausgeworfen.

 

Der Mensch besteht aus 2 Augen, die auf Schrauben achten, seine menschliche Handlung besteht darin, die Schrauben einmal, zweimal oder bis zur Hälfte anzuziehen – sonst nichts.

 

Der Mensch ist aber ein Lebewesen, das u.a. die Eigenschaften hat, die von ihm verrichtete Arbeit abzuwägen. Bei der Wahl der Arbeit hat er eine Zielvorstellung, er wählt dieses Ziel nach seiner Vorstellung, und nachdem er die Wahl getroffen hat, bereitet er die Arbeit vor. Während seiner Tätigkeit hat er das Gefühl, dass er für dieses Ziel arbeitet. Abgesehen von diesem Gefühl, von diesem Bewusstsein seiner Arbeit gegenüber, hat er unterschiedliche Gefühle und Bedürfnisse.

 

Der Arbeiter, der in Chaplins Film dargestellt wird, hat sich noch nicht an die eintönige, eindimensionale mechanische Ordnung gewöhnt. Wenn seine Geliebte, seine Mutter, sein Sohn ihn während der Arbeit besuchen, verlässt er seine Schrauben, erkundigt sich nach ihrem Befinden, klagt über die Trennung, fordert sie zum Sitzen und Teetrinken auf.

Auf einmal sieht er Polizisten hineinströmen, die Warnlampen gehen an, die Inspekteure kommen herein.

Was ist passiert? Die Kontrollapparate haben festgestellt, dass eine Schraube ohne angezogen worden zu sein die Reihe passiert hat. Alles steht still – sie kommen und nehmen ihn fest: Was hast du angerichtet?

Bei einer einfachen, natürlichen, menschlichen Gefühlsregung von ihm stürzt die ganze Ordnung zusammen, d.h. unter den jetzigen Verhältnissen hat der Mensch nicht die geringste Möglichkeiten zur Äußerung seiner Gefühle. Er passt da nicht hinein. Dieser gefühlsbetonte Mensch wird aber so an die Ordnung gewöhnt und so mechanisch erzogen, dass die Definition des Menschen, der Mensch sei ein sprechendes, liebendes, selbstbewusstes und schöpferisches Lebewesen, nach 20 Jahren Arbeit für ihn nicht mehr gilt.

 

Was ist dieser Mensch? Ein Lebewesen, das jede dritte Schraube anzieht. Wenn er die Straße überquert und einen Polizisten sieht, der Schraubenförmige Knöpfe an seiner Uniform hat, holt er seinen Schraubenschlüssel aus der Tasche und möchte sie anziehen. Sieht er eine Frau, die z.B. ein Abzeichen auf ihrem Hut bzw. an dem Kragen ihres Mantels befestigt hat, regt sich in ihm sofort einzig und allein das Gefühl, hinzugehen und es ein- oder zweimal umzudrehen. Seine ganze Welt besteht darin, 2 Schrauben passieren zu lassen, die dritte anzuziehen. Das ist die Philosophie seines Lebens, das ist der Sinn, das Wesen und die Wahrheit seines menschlichen Daseins. Warum zieht er die Schraube an? – Um essen zu können. Warum isst er? – Um die Schrauben anzuziehen zu können. (Der Menschenkreis!)

 

Dieser ist nicht der Mensch, der Gefühle, Ideale, Nöte, Schwächen, Empfindungen, Erinnerungen und Tugenden hatte. Alles verschwindet, und er wird der eindimensionale Mensch von Markuse, und nach den Worten von Chandel: „Der Menschenkreis beginnt: Produktion für Konsum – Konsum für Produktion.“

Dieser Mensch, der ein Mikrokosmos war, der Gottes Ebenbild war und Gottes Eigenschaften besaß, wird zum Bestandteil eines Schraubenschlüssels, d.h. er verkörpert die Persönlichkeit der Maschinen, der Schrauben und die Persönlichkeit der mechanischen Bewegung. Er empfindet sich nicht mehr als der Mensch von dem Haus, von jener Familie, von dem Stand, mit jener Ausbildung, von der Rasse und den Eigenschaften, sondern er kommt sich wie ein Werkzeug vor.

 

Die Selbstentfremdung tritt manchmal als akute Krankheit auf, die von einem Arzt behandelt werden muss. In ihrer intensiven Erscheinungsform wird der Patient in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Die von der Maschine und durch die unmenschliche Ordnung verursachte Selbstentfremdung ist in der tat eine Folge der Technokratie.

Sie wird manchmal durch die Technokratie und manches mal durch eine besondere Art von Verwaltungsordnung verursacht. Einer der renommierten europäischen Soziologen behauptet:

In einer großen, komplizierten Verwaltungsorganisation, in der es z.B. 1000 durchnummerierte Bedienungs-

Schalter gibt, wird sich der Herr, der am Schalter 345 sitzt und 20 Jahre dort gearbeitet hat und Wiederholung zu seiner Lebensaufgabe gehört – eher als Herr Schalter 345 empfinden, weil sich alle Menschen immer an den Schalter 345 wenden und nur diesen Schalter kennen. Die allgemeine Auffassung, dass er nur zum Schalter 345 gehört, erweckt in ihm und in allen anderen das Gefühl, dass er der Schalter 345 sei, nicht der Herr . . . mit diesen und jenen Eigenschaften. Das ist die Aliénation durch die Bürokratie.

 

Aliénee bedeutet vom Teufel besessen. In früheren Zeiten gab es die Idee des Besessensein vom Teufel. Wenn einer wahnsinnig wurde, dachte man, dass der Teufel (bzw. Dschin) in seinem Körper eingedrungen sei und von seinem Verstand Besitz ergriffen habe, er empfinde nicht seine eigene Identität sondern die des Teufels (bzw. des Dschin). Eben dieses Wort wird heute von Soziologen und Psychologen für die oben genannte Krankheit gebraucht. Wie der Mensch in früheren Zeiten durch seine Berührung mit dem Dschin von ihm bessern wurde, wird der heutige Mensch durch seine ständige Berührung mit einer bestimmten maschine oder mit einer Art der eintönigen, grausamen, großen Verwaltungsorganisation ein Bestandteil dieser Verwaltung oder jener maschine. Er empfindet nicht einmal seine persönliche Eigenschaften. Er ist verloren. Wie der Teufel bzw. Dschin nach dem alten Glauben vom Menschen Besitz ergriff und ihn zum Wahnsinn trieb, so ergreifen heute das Werkzeug und die Art der Arbeit Besitz vom Menschen. Sie vernichten allmählich seine echte und menschliche Persönlichkeit. Die Maschine, das Werkzeug, die Art der Arbeit und die Amthierarchie ergreifen Besitz von seiner Persönlichkeit, er identifiziert sich mit ihnen.

 

 

 

Es gibt eine andere Art von Besessenheit, die zur Selbstentfremdung und der Entfremdung von der Gesellschaft führt. Diese Entfremdung, wovon wir Orientalen – Iraner, Inder, Afrikaner, Muslime befallen sind, ist noch schrecklicher, offensichtlicher und realer als die andere. Diese Entfremdung ist aber nicht technologisch bedingt. Wir sind nicht durch die Maschine entfremdet, hier ist keine Maschine bzw. Bürokratie am Werk. Einige Abteilungen in einer Behörde und ein paar Beamte bürokratisieren den Menschen noch nicht. Die Bourgeoisie ist noch nicht so weit, dass sie uns entfremden könnte. Woran wir leiden, ist noch härter und gefährlicher – es ist die kulturelle Entfremdung.

 

Was bedeutet kulturelle Entfremdung?

Wir hatten doch erklärt, dass jede Art von Entfremdung bedeutet, dass der Mensch sich mit seinem wahren Ich nicht identifiziert, sondern mit etwas Anderem unter einer anderen Bezeichnung. Dieser Mensch ist entfremdet.

Nun, womit er sich identifiziert, mit dem Geld, mit der Maschine, mit dem Schalter 345, mit Askese, mit der geliebten, macht keinen Unterschied – es ist nur eine Sache des Zufalls oder des Geschmacks.

 

Was ist Kultur?

Hier möchte ich nicht die verschiedenen Definitionen der Kultur wiedergeben. Welche Definition der Begriff Kultur auch immer haben mag, man kann ihn mit folgenden Worten abstecken: Kultur ist die Summe aller geistigen, künstlerischen, geschichtlichen, literarischen, religiösen und gefühlsmäßigen Erscheinungsformen, (z.B. Symbole, Zeichen, Sitten und Gebräuche, Traditionen, Werke, kollektive Verhaltensweisen…), die sich im Laufe der Geschichte eines Volkes entwickelt haben. Diese Erscheinungsformen erklären die Leiden, die Nöte. Die geistige Qualität Veranlagung, die sozialen Eigenschaften, das materielle Leben, das soziale Verhältnis und die wirtschaftliche Struktur eines Volkes.

 

Wenn ich meine Religion, meine Literatur, meine Gefühle, meine Leiden und Nöte in meiner eigenen Kultur empfinde, empfinde ich in Wahrheit mein eigenes Ich. Mein soziales und geschichtliches (nicht individuelles) Ich ist die Quelle, von der diese Kultur entsprungen ist und lebt. Die Kultur ist also ein Überbau, eine Erscheinungsform von einem Unterbau und von einem wirklichen Sein meiner Gesellschaft und ihrer Geschichte. Aber durch die künstlichen und meist verdächtigen Faktoren, die besonderen sozialen Voraussetzungen und Verhältnissen unterworfen sind, in einer besonderen geschichtlichen Epoche in Erscheinung treten und besondere Probleme, Gefühle, Empfindungen hervorrufen, die von einem anderen Geist, einer anderen Erziehung und einer anderen sozialen, wirtschaftlichen und materiellen Gesellschaft beeinflusst werden, so dass sie meine Kultur von meinem Bewusstsein entfernen, und sie durch eine andere Kultur mit einem anderen geschichtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Hintergrund ersetzen, identifiziere ich mich mit einer anderen Kultur als meiner eigenen, klage ich über Sorgen, die nicht meine sind, beklage laut die Missgunst, die mit den kulturellen, philosophischen und sozialen Gegebenheiten meiner Gesellschaft nicht übereinstimmt, ich werde von Sorgen, Idealen, Wünschen befallen, die zwar in einer anderen Gesellschaft mit bestimmten sozialen, wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen Voraussetzungen natürlich sind, aber nicht für mich. Ich empfinde diese Sorgen und Ideale jedoch als meine eigenen. So werde ich durch eine andere Kultur entfremdet. Der Schwarze in Afrika, der Berber in Nordafrika, der Iraner und der Inder in Asien, sie alle haben ihre besondere Vergangenheit und Gegenwart. Die Sorgen, die sie aber empfinden, sind die Sorgen einer Gesellschaft, welche die Entwicklungen des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung, des Scientismus, der Ideologien des 19. Jahrhunderts und die der kapitalistischen Welt nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erfahren hat.

 

Was geht Sie das ganze an? Welche davon gehört zu Ihrer Geschichte, dass Sie nun die Sorgen, Ideale, Empfindungen und Reaktionen, die daraus resultieren, in sich empfinden? Es würde so aussehen, dass Sie z.B. über Nervenschmerzen klagen, obwohl Sie an Fußschmerzen leiden. Warum? Weil Sie jemanden kennen, der intelligenter, reicher, respektabler ist als Sie und schlechte Nerven hat. Sie leiden zwar an Fußschmerzen, entscheiden sich aber für die Behandlung Ihrer Nerven, weil Sie das Nervenleiden eines Anderen verspüren, nicht aber die eigenen Fußschmerzen. Ich fühle mich also nicht so, wie ich bin, sonder so, wie es ist; das heißt, ich bin entfremdet.

 

Während in einer Gesellschaft Hunger und allgemeiner Analphabetismus herrschen, empfindet der Intellektuelle dieser Gesellschaft die gleichen Sorgen und Wünsche wie die junge Generation von Amerika, England oder Frankreich. Er leidet unter dem Überfluss der Wohlstandsgesellschaft und am Mangel an geistigen Werten. Er sucht Ruhe und Entspannung. Seine Leiden rühren von einer Ordnung, welche die Maschine ihm aufgezwungen hat, her. Diese Ordnung hat ihm Leiden zugefügt, über die er klagt; aber ich, der unter den Problemen einer nicht-maschinellen Umwelt leide, klage auch über dieselben Sorgen.

 

Es ist lächerlich, dass wir, die vom Auto überfahren worden sind, uns Hände, Füße und Rippen gebrochen haben, blutüberströmt gerade denjenigen nachahmen, der am Steuer gesessen und uns überfahren hat. Also denjenigen, der des Autofahrens und des Überfahrens überdrüssig geworden ist.

Auf diese Weise sind dir nicht-europäischen Gesellschaften durch die europäischen Gesellschaften entfremdet worden; sie leiden unter Selbstentfremdung, d.h. der Gebildete und Intellektuelle der orientalischen Gesellschaft hat keine Empfindungen wie ein Orientale, er klagt nicht wie ein Orientale, er wünscht nicht wie ein Orientale und er leidet nicht auch nicht nach den Erfordernissen seiner eigenen Gesellschaft, er hat vielmehr die Sorgen, Leiden und Nöte eines Europäers in einer kapitalistischen und materiellen Überflussgesellschaft. Das ist der größte Kummer und die größte Verirrung in der in der heutigen menschlichen Gesellschaft; die psychische Verirrung der Persönlichkeit der Nicht-Europäer, die in Wirklichkeit etwas anderes sind als sie fühlen, denn sie fühlen in sich einen anderen.

 

In alten Zeiten identifizierten sich die nicht europäischen Länder mit sich selbst. Vor 200 Jahren hatten sie zwar nicht die heutige europäische Zivilisation, dafür war aber jeder er selbst. Ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihre Arbeitsweise, ihre geistigen Werte, ihre Entspannung, Geschmäcke, Vergnügen, ihre Gebete, ihre guten und schlechten Taten, ihre Künste, ihre ästhetischen Gefühle, ihre philosophischen Gedanken, ihre religiöse Denkweise, alle gehörten ihnen selbst.

 

Wenn jemand in Indien oder Afrika ankam, wusste er gleich, dass er sich in Indien bzw. Afrika befindet. Er fand eine besondere Geschmacksrichtung, besondere Bauweise, besondere Dichtung. Sie malten wie ein Inder, die Dichter litten wie Inder, sie dachten ihrer Gesellschaft entsprechend, sie hatten ihre eigenen Farben, Krankheiten, Wünsche, Religionen – alles gehörte ihnen. Obwohl der Lebensstandard niedrig war, gehörte ihnen alles, was sie hatten. Sie waren nicht krank, aber arm – denn Krankheit ist anders als Armut.

 

Die heutige europäische Gesellschaft hat es geschafft, in dem Maße, wie sie die Erscheinungsformen ihrer Gesellschaft in die nicht-europäischen Gesellschaften einführt und ihre modernen Waren in diesen Gesellschaften verbrauchen lässt, ihre philosophische Denkweise, Ideologien, Geschmacksrichtungen, Verhaltensweisen in diese Gesellschaften einzuführen – in Gesellschaften, die für diese Verhaltens- und Denkweise, Geschmäcke und Begeisterungen nicht geeignet waren. So wurden außerhalb der europäischen Zivilisation Gesellschaften geschaffen wie eine Mosaikgesellschaft.

 

Nun, was bedeutet eine Mosaikgesellschaft?

Das Mosaik setzt sich aus Hunderten kleiner bunter Steine zusammen, die in einer Form zusammengepresst worden sind. Welche Form besitzen sie selbst? Gar keine! Die Mosaiksteine haben verschiedene Farben, verschiedene Teile, die keine besondere Form bilden. Die Zivilisationen sind ebenfalls Mosaikzivilisationen. Etwas Material besitzen sie von alten Zeiten, einige Materialien ohne Form und Norm aus Europa eingeführt; daraus setzt sich das Mosaik einer halb zivilisierten, halb modernisierten Gesellschaft zusammen. Für den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft haben wir nicht das aussuchen können, was für den Aufbau der europäischen Zivilisation notwendig war. Die Zusammensetzung des Mosaiks wurde auch von ihnen bestimmt; denn wir wussten nicht, was „Zivilisation“ ist und welche Form sie hat. Ohne zu wissen, was wir in dieser Gesellschaft aufbauen sollten, bevor wir uns entscheiden konnten, wie wir unsere Gesellschaft nach eigener Denkweise gestalten und nach einem vorgegebenen Plan Elemente eigener bzw. fremder Kultur  hineinbringen, haben wir ohne Plan unterschiedliche Elemente aus aller Welt zusammengeworfen, worin sich europäische, eigene, vergangene, gegenwärtige Materialien in einem Haufen befinden – ohne Form, ohne Gestalt. Es wurde eine modernistische Gesellschaft ohne Form und Ziel aufgebaut. Das sind nicht-europäische Gesellschaften, die innerhalb eines bzw. ein und halb Jahrhunderts die Materialien unter der Bezeichnung Zivilisation aus Europa übernommen haben. Auf welche Ursprünge geht die form- und ziellose Mosaikzivilisation in den nicht-europäischen Ländern zurück, in denen weder die Bevölkerung noch die Denker wissen, warum sie leben, wofür sie leben, welche Zukunft auf sie wartet und welche Ansichten sie vertreten?

 

Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurde die Maschine in Europa entdeckt und entwickelt. Sie blieb in der Hand des Kapitalisten und des Reichen. Eine Maschine muss die Produktion steigern, solange sie arbeitet, das ist eben ihre Bestimmung. Wenn eine Maschine ihre Produktion innerhalb 10, 11 Jahren nicht steigert, ist sie dem Untergang geweiht. Sie kann die Arbeit nicht fortsetzen, sie ist gegenüber den anderen Maschinen nicht mehr konkurrenzfähig, denn wenn sie die Produktion nicht steigert, können die anderen Maschinen, die die gleiche Ware produzieren, sie bei einer höheren Produktion den Konsumenten billiger zur Verfügung stellen. So kann die teure Ware nicht verkauft werden. Um den Arbeitslohn zu erhöhen und gleichzeitig die Ware billiger als die Konkurrenz anbieten zu können, muss die Produktion gesteigert werden. Die Maschine wurde dabei von Wissenschaft und Technik unterstützt. Sie konnte ihre Produktion ständig steigern. Das führte zu einer Veränderung der Menschheit. Wir dürfen nicht denken, dass dieses nur eines der vielen Probleme in der Welt ist. Dieses ist d a s  Problem, mit dem man in den letzten 2 Jahrhunderten konfrontiert ist. Alle Fragen, die Europa heute der Welt stellt, beruhen auf diesem Problem.

 

Die Maschine muss jedes Jahr die Produktion progressiv steigern. Damit die Ware nicht liegen bleibt, muss der Konsum ebenfalls gesteigert werden. Der Verbrauch kann jedoch nicht in dem Maße wie die Produktion erhöht werden. Es ist möglich, dass in einer Gesellschaft innerhalb der letzten 10 Jahre der Verbrauch von Papier um 10% gestiegen ist. Es gibt aber Papierproduzierende Maschinen, die in dieser Zeit ihre Produktion um 300% gesteigert haben; oder vor 10 Jahren hat eine Maschine in einer Stunde beispielsweise 5 Km Papier produziert, jetzt produziert sie, nach 10 Jahren, 50 Km. So schnell aber ist der Verbrauch in dieser Zeit nicht gestiegen. Was soll man mit der Überproduktion machen? Man muss für neuen Konsum sorgen. Jede europäische Gesellschaft verbraucht eine bestimmte Menge. Infolge der schwindelerregenden und progressiven Steigerung der Produktion kann die Bevölkerung nicht zwingen, ihren Verbrauch ebenfalls zu steigern. Weil die Maschine dem Zwang der Überproduktion unterworfen ist, müssen die Grenzen überschritten und außerhalb der eigenen Gesellschaft Absatzmärkte gesucht werden.

 

Als im 18. Jahrhundert die Maschine zusammen mit der neuen Technik und Wissenschaft in die Hände des Kapitals fiel, war das Schicksal des Menschen besiegelt. Alle Menschen der Erde wurden gezwungen, die produzierte Ware zu verbrauchen. Die Märkte Europas waren schnell gesättigt, die Überproduktion musste zwangsläufig nach Afrika und Asien exportiert werden. Afrikaner und Asiaten mussten die europäische Ware verbrauchen, weil es die Arbeitsweise der Maschine so erfordert. Kann man die Waren so einfach in den Orient bringen und die Bevölkerung zwingen, sie zu verbrauchen, obwohl ihre Lebensart den Verbrauch solcher Waren nicht erfordert? Unmöglich! Kommt man in eine asiatische Gesellschaft, so sieht man, dass die Kleider von den Frauen oder einheimischen Werkstätten genäht werden. Sie haben ihre örtliche Kleidung und ziehen sie an. Die Kleider und Stoffe, die von modernen europäischen Maschinen produziert werden, finden hier keinen Absatz. Kommt man in eine afrikanische Gesellschaft, stellt man fest, dass das Vergnügen und die Unterhaltung der Bevölkerung aus Reiten und Pferdezucht bestehen. Sie haben überhaupt keine Straßen, keine Fahrer. Das Auto ist für sie kein Begriff. Sie brauchen keine Maschine. Sie leben in einem ausgewogenen Verhältnis von Produktion und Verbrauch, das mit ihren Traditionen, Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen übereinstimmt. Sie empfinden kein Bedürfnis zum Gebrauch europäischer Autos.

 

Eine europäische Firma produziert große Menge von verschiedenen Kosmetikartikeln; sie steigert ständig die Qualität und Quantität. Diese Waren müssen in afrikanische und asiatische Länder eingeführt werden. Es wäre unmöglich gewesen, dass die Frauen und Männer in Asien und Afrika im 18. und sogar 19. Jahrhundert diese Waren verbraucht hätten, auch wenn man sie ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt hätte; denn sie schminken sich nach ihrer eigenen Art, sie hatten ihre eigene Schönheitsvorstellung. Die afrikanischen und asiatischen Frauen brauchen diese Waren nicht, um schön auszusehen oder sich zu schminken. Sie brauchten diese absurden Dinge nicht, sie hatten ihre eigenen Schmink- und Schmucksachen, die allen gefielen und von allen benutzt wurden. Sie verspürten kein Bedürfnis, sie zu verändern

 

So wäre das kapitalistische Europa aber auf diesen Waren sitzen geblieben. Diese Menschen, die nach ihrer eigenen Denkweise mit ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen lebten und waren für ihre Bedürfnisse produzierten, wären nicht imstande gewesen, Verbraucher der Waren europäischer Industrie des 18. Jahrhunderts zu sein. Was sollte man da tun? Man musste eben die Menschen in Asien und Afrika zu Verbrauchern europäischer waren umerziehen. Ihre Gesellschaft musste so umgeordnet werden, dass sie europäische Waren kaufte – also die Veränderung eines Volkes. Das Volk musste verändert werden, damit man die Form seiner Kleidung, seine Konsumgewohnheit, die Form seiner Stadt ändern konnte. Mit welcher Veränderung bewirkt man es? Mit der Veränderung seines Geistes. Wer kann den Geist einer Nation, die Denkweise einer Gesellschaft ändern? Dazu sind weder der europäische Kapitalist noch der europäische Ingenieur oder diejenigen, die diese Waren produzieren, imstande. Da mussten die europäischen Denker heran, um einen besonderen Plan zu erarbeiten, damit der Geschmack, die Denk- und Lebensweise des Nicht-Europäers geändert werden konnten. Das sollte natürlich nicht nach seiner eigenen Wahl geschehen, sonst könnte er sich wieder so verändert haben, dass er kein Verbraucher dieser Waren würde. Geschmäcke, Sorgen, Leiden, Wünsche, Ideale, ästhetische Empfindungen, Traditionen, soziale Verhältnisse, Entspannungsbedürfnisse mussten so verändert werden, dass der Mensch gezwungenermaßen zum Verbraucher der europäischen Industriewaren wurde. So übertrugen die großen Produzenten und Kapitalisten des Europa des 18. und 19. Jahrhunderts den Plan den Denkern. Der Plan lautet, dass alle Menschen auf der Erde vereinheitlicht werden müssen. Sie müssen die gleiche Lebensform und die gleiche Denkweise haben. Alle Völker der Welt haben aber nicht die gleiche Denkweise. Was macht die geistige und schöpferische Identität und Qualität eines Menschen bzw. eines Volkes aus? Seine Religion, seine Geschichte, seine Kultur, seine vergangene Zivilisation, seine Erziehung, seine Tradition. Sie sind die Faktoren, die geistige und schöpferische Identität und Qualität eines Menschen und eines Volkes ausmachen. Diese Faktoren sind in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich. In Europa sind sie anders als an jedem Ort in Asien und Afrika. Sie sollen jedoch vereinheitlicht werden; um das zu erreichen, müssen die unterschiedlichen Denkweisen, die bei jedem Volk, an jedem Ort und jeder Gesellschaft anzutreffen sind, beseitigt werden. Dafür muss ein Muster vorhanden sein.

 

Welches Muster? Das besorgen schon die Europäer. Sie zeigen allen Orientalen, Asiaten, Afrikaner, wie sie denken, wie sie sich kleiden, welche Sorgen sie haben, wie sie bauen, wie sie ihre sozialen Verhältnisse Ordnen, was sie wünschen, was sie verbrauchen, welche Meinungen sie vertreten und woran sie Gefallen finden müssen.

 

Dann erfuhren wir plötzlich, dass eine neue Kultur unter dem Namen der Erneuerung aller Welt angeboten wurde. Der Modernismus war der härteste Schlag, mit dem an jedem Ort der Welt, in der nicht-europäischen Gesellschaft die eigene Denkweise und Identität des Menschen vernichtet wurde. Die Arbeit der Europäer bestand darin, in allen Gesellschaften, in welcher Form auch immer, den Wunsch nach Modernisierung zu erwecken. Sie hatten festgestellt, dass der Orientale sogar bereit ist, mitzuarbeiten, mit der eigenen Tradition zu brechen und alles, was seine Identität als Nicht-Europäer ausmacht und alle Faktoren seiner Kultur, Religion und die eigene Persönlichkeit mit Hilfe der Europäer zu verteufeln und zu vernichten, wenn sie auf irgendeine Weise in ihm die Liebe zur Modernisierung erweckten.

 

Das Gemeinsame bei den Ländern des Fernen, des Mittleren und des Nahen Ostens sowie der islamischen Länder und der Länder des schwarzen Kontinentes bestand darin, dass sie der Versuchung des Modernismus erlagen. Modernist werden bedeutete, den Europäern ähnlich zu werden. Der Modernist ist modern im Verbrauch, er kauft moderne Waren, er lebt in modernen Verhältnissen; die Waren, die er verbraucht, die Art wie er lebt, haben mit seiner echten nationalen und sozialen Tradition nichts zu tun, sondern mit den Lebensformen, die aus Europa eingeführt worden sind. Der Nicht-Europäer sollte also in seinem Konsumverhalten zu einem Modernisten werden. Man hätte ihm aber nicht sagen können, dass man seine Denkweise und seine Persönlichkeit erneuern möchte; dann hätte er Widerstand geleistet. Europa musste also in dem Maße, wie es die nicht-europäischen Gesellschaften modernisiert – sie zu modernen Konsumenten macht – ihnen begreiflich machen, dass Modernismus dasselbe ist wie Zivilisation; denn jeder Mensch findet Gefallen an Zivilisation. Man hat also den Modernismus mit der Zivilisation gleichgesetzt, um den Betreffenden dazu zu bringen, selbst bei seiner Modernisierung mitzuarbeiten. Daher haben wir die Erfahrung gemacht, dass die nicht-europäischen Intellektuellen sich intensiver als die Bourgeoisie, Kapitalisten und Industriellen Europas um die Erneuerung des Verbrauchs und der Lebensweise der nicht-europäischen Gesellschaften bemüht haben. Die modernen Waren können sie allerdings nicht selber produzieren – so werden sie abhängig von einer Maschine, die für sie produziert.

 

Als ich in Europa studierte, hatte eine Autofabrik annonciert, dass sie einen Soziologie- und Psychologie- Studenten mit gutem Gehalt einstelle. Ich suchte Arbeit. Für mich war es interessant zu erfahren, warum eine Autofabrik Soziologen und Psychologen braucht. Ich wandte mich an die Firma. Während des Vorgesprächs mit dem Public-Relation-Beauftragten der Firma sagte er mir, sie werden wahrscheinlich fragen, warum wir einen Soziologiestudenten zu uns gebeten haben, denn normalerweise müssten wir mit den Studenten der technischen Fächer zu tun haben. Ich bejahte seine Vermutung. Diese Frage möchte ich Ihnen beantworten, sagte er. Er brachte eine geographische Karte von Asien und Afrika und zeigte mir die Städte, in denen ihre Autos gut verkauft wurden, und wiederum Orte, in denen sie nicht verkauft werden konnten. Den Grund, sagte er, kann man von einem Ingenieur nicht erfahren. Der Soziologe muss wissen, welchen Geschmack die Leute haben, warum sie das Auto nicht kaufen, damit wir eventuell Farbe und Auto ändern, wenn wir nicht imstande sind, sie selber zu verändern. Dann gab er mir ein Beispiel über den Erfolg der europäischen Soziologen bei der Modernisierung der Stämme. Er zeigte mir ein waldreiches, gebirgiges Land am Ufer des Tschad-Flusses, in dem Eingeborenenstämme lebten. Er zeigte einige Ortschaften, wo die Bewohner um eine Festung, die dem Stammeshäuptling gehörte, wohnten. Der Stamm hat noch keine Schulen, sagte er, es existieren keine Straßen, die Bevölkerung hat keine ordentliche Bekleidung, sie haben keine Häuser, sie leben in Zelten. Dann zeigte er, dass der Häuptling dieses halbzivilisierten Stammes 2 Renault-Fahrzeuge mit goldenen Leisten vor der Festung geparkt hatte.

 

Er wollte damit zeigen, dass ursprünglich das Pferd der Bevölkerung zum Zeitvertrieb diente; wer das beste Pferd hatte, war am berühmtesten und wurde von allen beneidet. Das Pferd war ein Zeichen der persönlichen Eitelkeit und Rivalität.

 

Solange dieser Geist in einem Stamm herrscht, kauft keiner Autos. Alle kaufen Pferde. Wir züchten aber keine Pferde. Da muss etwas geschehen, damit der Eingeborene das in Europa produzierte Auto kauft.

 

Die Stammesfrauen schminken sich mit den pflanzlichen Säften bestens, sie gefielen allen mit ihren Volkskleidern, Volkstänzen und volkstümlichen Speisen. So ist es nur natürlich, dass in solch einem Stamm die Frau weder Kosmetik-Artikel von Christian Dior kauft, noch der Mann Fahrzeuge von Renault. Solch einem Stamm kann der Europäer seine Waren nicht verkaufen.

Intensive Vorarbeiten waren notwendig, damit die europäischen Soziologen den Geschmack des Eingeborenen verändern konnten. Zuerst fand er es „chic“ zwei schöne und intelligente Pferde und die besten Jagdhunde vor seiner Festung zu halten. Nun haben wir seinen Geschmack so verändert, wir haben ihn so modernisiert, dass er nicht mehr stolz ist, 2 Pferde vor seiner Festung halten zu können, sondern 2 Renault mit goldenen Leisten. Wo sind denn die Straßen? Fragte ich. Sie haben vorläufig 7-8 km Straßen um die Festung gebaut, sagte er. Als der Häuptling den Wagen neugekauft hatte, fuhr er jeden Tag damit spazieren. Er gab ständig Gas, die Leute sammelten sich um den Wagen und schauten sich ihn an. Der Fahrer war 7-8 Monate da und bekam monatlich sein Gehalt. Da sie keine Tankstelle hatten, brachten sie das Benzin mit den Booten von weit her.

 

Daraus kann man ersehen, dass die Kapitalisten nicht vorhatten, den Stamm zu zivilisieren sondern ihn zu modernisieren. Sie wollten Leute, die statt auf Pferde und Reiten stolz zu sein, auf Autos und Autofahrten stolz waren. Der Stammesführer, der Asiaten oder der Nicht-Europäer ist in der Tat modernisiert worden. Man müsste schon sehr naiv und oberflächlich sein, um zu behaupten, dass er auch zivilisiert wurde.

 

Modernisierung ist:

Die Veränderung der Tradition, um die Umstellung des materiellen Verbrauchs von alt auf neu, weil das Alte von den Verbrauchern selbst produziert wurde, und das Neue von den Maschinen des 18.-20. Jahrhunderts.

 

So mussten alle Nicht-Europäer modernisiert werden. Um sie zu modernisieren, musste man zuerst ihre Religion bekämpfen, denn durch die Religion empfindet jede Gesellschaft ihre eigene Identität. Die Religion ist die Summe der geistigen Werte, von denen sich jeder Mensch abhängig fühlt. Wenn diese geistigen Werte zerschlagen, zerstört oder verschmäht werden, wird in der Tat der von diesen Werten abhängige Menschen ebenfalls zerstört und verschmäht. Daher kam im Orient, in Asien und Afrika die Bewegung gegen den Fanatismus durch die örtlichen Intellektuellen zustande. Europa wollte den Nicht-Europäer zum Sklaven der Maschine machen, sagte Fanon. Kann man einen Menschen, eine Gesellschaft zum Sklaven der Maschine oder zum Sklaven eines bestimmten europäischen Produktes machen, bevor man ihm bzw. ihr die Identität genommen hat? Die Identität muss also zuerst bekämpft werden.

 

Religion, Geschichte, Kultur als Summe der geistigen Werte der Gedanken und des künstlerischen und literarischen Schaffens geben einer Gesellschaft ihre Identität. Sie müssen alle zerstört werden.

 

Ich hätte im 19. Jahrhundert als Iraner empfunden, dass ich einer großen Zivilisation vom 4.-8. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung angehöre, die in der Welt ohne Beispiel war und die ganze Welt beeinflusst hat. Ich hätte empfunden, dass ich einer Kultur angehöre, die 2000 Jahre alt ist, die in verschiedenen Formen geistige Werte, neue Literatur, neue Kunst in der Welt geschaffen hat. Ich hätte empfunden, dass ich einem Islam angehöre, der die höchste, neueste und die weltumfassende Religion ist, die so viele geistige Werte geschafen, so viele Zivilisationen in sich aufgenommen und eine große Zivilisation zustande gebracht hat. Ich hätte empfunden, dass ich einem Islam angehöre, der die reinsten Seelen und die wertvollsten humanen Gestalten hervorgebracht hat. Ich hätte dann den Mensch vor der Welt und vor jedem Anderen meine menschliche Identität fühlen können. Wie hätte man denn einen wie mich zu einem Werkzeug umwandeln können, dessen Werte nur darin bestünde, moderne Waren zu verbrauchen? Man musste ihm darin bestünde, moderne Waren zu verbrauchen? Man musste ihm die Persönlichkeit, die Identität nehmen. Er musste sich des ganzen Ich, das er in sich fühlt, entledigen. Man musste ihn dazu zwingen zu glauben, dass er der niedrigeren Zivilisation, Kultur und Ordnung angehöre. Er muss glauben, dass die westliche Zivilisation und Rasse höher sind. Afrika muss glauben, dass der Afrikaner barbarisch ist, damit die Versuchung zur Erlangung der Zivilisation in ihm erweckt wird, so dass er sein Schicksal den Europäern bedingungslos anvertraut, damit er zivilisiert werde, wird sich dann nicht mehr bewusst, dass er statt dessen modernisiert wurde. Aus diesem Grunde stehen wir, dass er statt dessen modernisiert wurde. Aus diesem Grunde sehen wir, dass der Afrikaner im 18. und 19. Jahrhundert als Kannibale bezeichnet wird. Er hatte seit Jahrhunderten mit der islamischen Zivilisation zu tun und wurde niemals als Kannibale, hat einen besonderen Geruch, eine besondere Rasse, die grauen Gehirnzellen funktionieren nicht mehr, die Erbfaktoren in den Gehirnzellen des Orientalen und es Afrikaners sind unzulänglich.

 

Die Mediziner und Biologen haben „bewiesen“, dass das Gehirn des Europäers eine zusätzliche graue Schicht haben, die seinen Verstand und sein Gefühl beeinflusse, die jedoch beim Orientalen und Schwarzen fehle. Die Gehirnzelle des westlichen Menschen haben einen Zusatz, der sein Genie und Denkvermögen steigere, welcher einem Orientalen fehle. So entsteht eine neue Kultur, die auf der Überlegenheit des Westens und seiner Zivilisation und Menschen basiert.

 

Dann wird uns und der übrigen Welt eingeredet, dass der Europäer größere rationale und technische Fähigkeiten besitze, dagegen der Orientale in gefühlsmäßigen und übersinnlichen Dingen begabter sei; der schwarze tauge nur zum Tanzen, Spielen, Musizieren und zur Bildhauerei.

 

So kommt die Dreiteilung der Weltbevölkerung zustande:

Eine Rasse, die denken kann, das ist nur die europäische – von der Antike bis heute – eine Rasse, die nur gefühlsbetont ist und Gedichte schreibt – das ist die orientalische – sie hat lediglich mystische und übersinnliche Gefühle – und die schwarze Rasse, die gut singen, tanzen und musizieren kann.

 

Diese Geisteshaltung, die zur ideologischen Grundlage der Modernisierung nicht-europäischer Gesellschaften erklärt wurde, bildete später die geistige Grundlage der gebildeten Nicht-Europäer. Daraufhin erlebten wir einen 100-jährigen Kampf zwischen den Modernisten und den Traditionalisten in den nicht-europäischen Gesellschaften – einen der einfältigsten Kämpfe, die die Menschheit je erlebt hat.

 

Modernisierung, worin? Im Verbrauch – nicht im Denken.

Tradition, worin? In der Form des Verbrauches.

 

Der Kampf ging natürlich zugunsten der Modernisten aus. Wäre er zugunsten der Traditionalisten ausgegangen, wäre er in dieser Form auch nicht im Interesse der Bevölkerung gewesen. In diesem Kampf, im Kampf zwischen Modernisten und Zivilisten, war der Europäer der Fahnenträger. Unter dem Namen des Zivilisierens hat der Kampf um die Modernisierung gesiegt. Danach wurde 100 Jahre lang die Modernisierung der nicht-europäischen Gesellschaften durch ihre eigenen Gebildeten fortgeführt. Wie wurden diese Gebildeten herangebildet? Hierzu schreibt Jean-Paul Sartre im Vorwort zu Die Verdammten dieser Erde: „Wir brachten einige junge Afrikaner und Asiaten für einige Monate nach Amsterdam, Paris, London etc., fuhren sie herum, kleideten sie um, änderten ihr Aussehen, brachten ihnen soziale Umgangsformen und eine halbfertige Händlersprache bei, kurzum, wir entzogen ihnen den eigenen kulturellen Gehalt und schickten sie in ihre Länder zurück. Das waren nicht mehr Menschen, die für sich selbst sprechen würden – sie waren unser Sprachrohr. Wir gaben die Parole Menschlichkeit und Gleichheit aus, in Afrika und Asien riss man den Mund auf und verstärkte unsere Parolen. Es waren eben diese, die der Bevölkerung einredeten, dass sie sich von Fanatismus und Religion abwenden, mit der einheimischen Kultur, die uns vom Zugang zu modernen europäischen Gesellschaften zurückhält, brechen und von Kopf bis Fuß europäisch werden müssen.

 

Kann man die europäische Zivilisation exportieren und übertragen?

Ist die Zivilisation eine Ware, die man aus- und einführen kann?

Nein! Die Modernisierung ist aber die Summe der modernen Waren, die man innerhalb mehrerer Jahre in eine andere Gesellschaft einführen kann. So kann man eine Gesellschaft innerhalb von einigen Jahren vollständig modernisieren. Genau so gut kann man einen Menschen innerhalb kürzester Zeit vollkommen modernisieren – moderner als die Europäer. Ändert man seine Verbrauchsgewohnheiten, so wird er modern; mehr verlangt man auch nicht.

 

So einfach kann man eine Gesellschaft aber nicht zivilisieren. Zivilisation und Kultur sind keine in Europa hergestellten Waren, die jeder haben könnte, um zivilisiert zu sein. Man hat uns aber eingeredet, dass  die Zivilisation  diese Dinge mit sich brächte. Wir haben alles, was wir hatten, aufgegeben – sogar unsere soziale Identität, unsere Moral und unsere geistigen Werte. Wir wurden in durstende Geschöpfe verwandelt, die bereits waren, alles aufzusaugen, was die Europäer ihnen vorsetzten. Das war eben der Modernismus.

Ein Mensch wurde geschaffen bar jeglicher Vergangenheit, dem seine Geschichte, seine Religion und alles, was seine Rasse, seine Ahnen geschaffen hatten, fremd war. Ihm sind seine eigenen menschlichen Eigenschaften fremd. Ein Mensch, dessen Verbrauchsgewohnheiten zwar verändert worden sind, dessen Denkweise jedoch nicht nur keine Änderung erfahren hat, sondern er die alten Gedanken und die Ästhetik und geistigen Werte der Vergangenheit einbüßte. Nach den Worten von Jean-Paul Sartre ist aus diesen Gesellschaften der assimilierte Mensch, d.h. der Pseudo-Denker und –Gebildete entstanden, nicht aber der Denker und Intellektuelle.

Ein Intellektueller ist derjenige, der seine Gesellschaft und ihre Probleme kennt, imstande ist, sein eigenes Schicksal zu bestimmen, weiß welcher Vergangenheit er gehört, welche die geistigen Werte seiner Gesellschaft sind und der seine eigene Wahl trifft.

 

Die Leute hörten mit gespannter Aufmerksamkeit den Pseudointellektuellen zu. Wer waren diese Pseudointellektuellen in den nicht-europäischen Gesellschaften? Sie waren Vermittler zwischen jenen, die eine Ware anzubieten hatten und denjenigen, die zu Verbrauchern dieser Ware geworden waren. Vermittler, die die Sprache des Europäers und die des Volkes verstanden und dem Europäer den Weg wiesen – „Wegweiser von Kolonialismus und Ausbeutung“.

 

Daher bildete man einheimische Intellektuelle heran. Intellektuelle, die es nicht wagen würden, eigene Entscheidungen zu treffen, die keinen Mut zur Unterscheidung und Entscheidung hatten, Intellektuelle, die nicht einmal sich selbst kannten.

 

So wurden in diesen Gesellschaften Menschen herangebildet, die als Mensch so heruntergekommen sind, dass sie nicht den Mut haben zu sagen, ob ihnen ein Getränk schmeckt, ob die Musik, die sie hören, das Kleid, das sie tragen, ihnen gefällt oder nicht. Sie sind nicht einmal sie selbst, um eine eigene Wahl zu treffen. Damit ihnen ein Anzug gefällt, muss man ihnen sagen, dass ein solcher Anzug gerne getragen wird. Sie trinken ein scheußliches Zeug – das ihnen nicht schmeckt – um es dem Europäer nachzumachen, wagen aber nicht zu sagen, dass es ihnen nicht schmeckt.

 

Dagegen begegnen wir in Amerika und Europa Menschen, die keine Jazzmusik mögen und unbefangen protestieren, wenn sie irgendwo gespielt wird. Im Orient wagt kein einziger Moslem zu sagen, dass die Jazzmusik nicht gut ist und ihm nicht gefällt; denn sie haben ihm nicht einmal so viel Menschenwürde übriggelassen, dass er den Mut hätte, die Farbe seiner Kleidung zu wählen und den Geschmack seiner Getränke selber zu bestimmen. Fanon bemerkt dazu: Damit sie die Europäer nachahmen, müssten den Nicht-Europäern bewiesen werden, dass sie dem westlichen Menschen in der Persönlichkeit nicht ebenwürdig sind. Man müsste ihre Geschichte, ihre Literatur. Ihre Religion, ihre Kunst herabwürdigen und sie ihnen entfremden. Und wie wir gesehen haben, haben sie es geschafft. Sie haben Menschen herangebildet, die zwar ihre eigene Kultur nicht kennen, sie aber herabwürdigen; die den Islam nicht kennen, aber abfällig über ihn reden; die ein gewöhnliches Gedicht nicht ablesen können, aber die Dichter beschimpfen; die ihre eigene Geschichte nicht verstehen, sie aber verurteilen. Sie begeistern sich bedingungslos für alles, was aus Europa kommt.

 

So wuchs ein Mensch heran, dem seine Religion, seine Kultur, seine Geschichte und seine Vergangenheit fremd waren und der sie alle hasste. Nachdem er das glaubte, bestand sein ganzes Bestreben darin, sich selbst zu verleugnen und mit allem zu brechen, was ihm zugeschrieben wird. Er wollte unter allen Umständen dem Menschen gleich sein, der nicht so gering geschätzt wird; dann könnte er sagen, dass er Gott sei Dank kein Orientale mehr sei; sondern sich auf europäischer Ebene modernisiert habe.

 

Während der Nicht-Europäer froh ist, dass er ein moderner Mensch geworden ist, lacht dem europäischen Kapitalisten und Bourgeois das Herz, dass er Verbraucher seiner Waren geworden ist.